In vielen Städten werden neue Mobilitätskonzepte angedacht, geprüft oder ausprobiert. All diese Konzepte haben das gleiche Ziel: den motorisierten Verkehr aus den Innenstädten zu verbannen und mehr Platz für den Langsamverkehr und Freiräume zu schaffen. Sind diese Konzepte der Todesstoss für die ohnehin schon gebeutelten Ladengeschäfte in den Innenstädten? Eine Analyse.
Um ein Retail-Format erfolgreich zu betreiben, braucht es eine regelmässige Kundschaft, gute Besuchsraten und eine hohe Attraktivität des Einkaufsumfelds in Bezug auf Aufenthaltsqualität wie auch des umliegenden Angebots. Dabei ist es unerheblich, ob die Kundinnen und Kunden mit dem Auto, dem E-Scooter oder zu Fuss in die Einkaufsstrassen pilgern. Entscheidend sind allerdings die persönlichen Präferenzen der Einkaufenden, wie sie ins Ladengeschäft kommen. Einige bevorzugen es, mit Fahrrad oder Einkaufswagen einkaufen zu gehen, anderen ist es wichtig, die neusten Einkäufe schnell und bequem im Auto zu verstauen, um anschliessend wieder in weitere Konsumabenteuer zu starten. Hier ist es elementar, dass die Wahlfreiheit dem Konsumenten überlassen bleibt.
Nehmen wir an, dass ein Gebiet vom Hauptbahnhof in Zürich bis zum Seebecken, vom Bellevue bis zum Central und von der Langstrasse bis zum Bahnhof Enge autofrei würde. In diesem Gebiet dürften sich nur noch der Langsamverkehr bewegen – mit Ausnahme von den Anlieferungen zu den Ladengeschäften und Elektrotaxis. Das genannte Gebiet umfasst lediglich eine Fläche von überschaubaren 1.6 Quadratkilometern. Die freien Flächen der Strassen könnten für Parks, ausladende Zonen für den Langsamverkehr sowie den öffentlichen Verkehr genutzt werden. In dieser Idylle würde eine neue Wohlfühloase für Personen geschaffen, die gerne den sonst so hektischen Alltag entschleunigen und sich umweltverträglich verhalten möchten. Aber was passiert mit den Autofahrern?
Hier geht es darum, ideale Voraussetzungen zu schaffen, damit das Einkaufserlebnis auch attraktiv bleibt. Verschiedene Schweizer Städte haben bereits diverse Mobilitätskonzepte erarbeitet, welche bestehende Einkaufssituationen analysieren sowie Lösungsmöglichkeiten für weniger Verkehr in der Innenstadt aufzeigen. So hat zum Beispiel die Stadt Zürich Ende 2017 ihre auf die Retail-Branche zugeschnittene Studie «Handel im Wandel» publiziert, in der verschiedene zukünftige Szenarien dargestellt sind. Das greift aber noch zu wenig weit. Was ist also, wenn wir von grosszügigen, günstigen Parkmöglichkeiten an der Peripherie dieser autofreien Zonen sprechen? Ein (kostenloser) Lieferdienst nach Hause oder zu diesen Parkhäusern wird dann für jedes Ladengeschäft Pflicht. Der motorisierte Verkehr muss intelligent mit neuen Möglichkeiten um das Gebiet gelotst werden, wie beispielsweise mittels einer Ringstrasse, dem Seetunnel oder ähnlichen Bauvorhaben, um den Verkehr nachhaltig zu organisieren. Der Zugang zur autofreien Zone muss mit verschiedensten Zugangsoptionen versehen werden. Es müssen Angebote für jedes Bedürfnis entstehen, so dass auch man individuell zu einzelnen Orten gelangen kann. Ziel muss sein, dass man das eigene Auto nicht benötigt, sondern mit Freude in die autofreie Zone eintauchen kann.
Das neu geschaffene Gesamterlebnis bei einem Besuch in der Innenstadt steigert die Frequenz: Es wird vermehrt auf öffentlich zugänglichen Plätzen flaniert, in Cafés verweilt, in Läden eingekauft und auf Spielplätzen herumgetollt. Somit wären die Kundenbesuche sichergestellt und die Umsätze der Retailer blieben, auch ohne direkten Zugang des motorisierten Verkehrs, auf gleichem Niveau. Dass solche Mobilitätskonzepte funktionieren, zeigen Beispiele in der Niederlande. So wurde die Stadt Groningen Ende der Siebziger Jahre in vier Sektoren aufgeteilt und der motorisierte Verkehr zwischen den Sektoren stark eingeschränkt. Auch für Houten, heute eine Gemeinde mit 50'000 Einwohnern in der Nähe von Utrecht, wurde in den Siebziger Jahren auf dem Reissbrett ein komplett autofreies Konzept entworfen und umgesetzt. Die Autos verkehren ausschliesslich auf einer Ringstrasse um die Stadt herum.
Ein neues Mobilitätskonzept für eine Schweizer Stadt bedingt für mich allerdings, dass die unterschiedlichen Massnahmen zur gleichen Zeit umgesetzt werden und die Ladenzeilen der Innenstadt während der Umgestaltung geöffnet bleiben. Damit dies funktioniert, müssen Lösungen für die Verkehrsströme, Kleinmengenlogistik, Parkierung und Zugangsoptionen gefunden und umgesetzt werden. Diese herausfordernde Aufgabe liegt in der Hand der Behörden, Gemeinden und Stadtplaner und bedarf einer sorgfältigen Ausarbeitung; Planung und Finanzierung mit Hilfe ausgesuchter Fachpersonen. Wenn die Schweiz heute mit einem solchen Konzept für ihre Innenstädte startet, wird die nächste Generation davon profitieren können. Zu guter Letzt sind auch Touristen neugierig auf innovative Metropolen – in der Schweiz hat Zürich die besten Voraussetzungen, in diesem Bereich als Vorreiterin zu brillieren.